Wir haben drei Nobelpreisträger der TUM gefragt, welche Bedeutung Kreativität für ihre Arbeit hat.
Nobelpreis für Chemie 2017
Welche Rolle spielen kreative Ansätze in Ihrer wissenschaftlichen Forschung?
Sie sind unerlässlich. Ein Großteil meiner Arbeit konzentriert sich auf die Entwicklung neuer Methoden, und wenn ich mit einem Problem konfrontiert werde, finde ich es immer notwendig, in anderen Bereichen der Wissenschaft, Technik oder Mathematik nach möglichen Antworten zu suchen. In Metaphern zu denken, ist eine der Stärken eines Wissenschaftlers. In Deutschland zeichnet sich Goethe als ein Mann mit einem großen Köcher von Metaphern aus, die er sowohl in seinem literarischen Werk als auch in seinen wissenschaftlichen Erkundungen verwendete.
Was tun Sie, wenn Sie bei der Lösung eines Problems einfach nicht weiterkommen?
Ich lenke meine Aufmerksamkeit auf etwas Anderes. Das kann ein anderes wissenschaftliches Projekt sein oder eine Verwaltungsaufgabe, die ich lange aufgeschoben habe, oder ein Förderantrag, an dem ich schon eine Zeitlang arbeite. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Assoziationen und Simulationen, die in einem anderen Bereich entstehen, dabei helfen, einen neuen Ansatzpunkt für das festgefahrene Projekt zu finden. In der Tat ist es so, dass die Suche nach einer Lösung in meinem Gehirn so etwas wie ein eigenes unterbewusstes Leben führt und Tag und Nacht andauert.
Neben der Wissenschaft ist das kreative Schreiben Ihre zweite Leidenschaft: Welche Bedeutung hat das Schreiben für Sie?
Ich habe schon in der Schule angefangen zu schreiben. Ich war Gründungsmitglied der Redaktion der Schülerzeitung Strebergarten an meinem Gymnasium. Im Laufe der Jahre schrieb ich deutsche Gedichte und kurze, von der DADA-Bewegung beeinflusste Kurzgeschichten. Nachdem ich in die USA gezogen war, begann ich auf Englisch zu schreiben und besuchte Schreibkurse für Belletristik. Das Schreiben ist ein Ventil für freie Kreativität, die nicht durch Regeln des logischen Denkens eingeschränkt wird. Ohne sie würde ich mich als Person unvollständig und unerfüllt fühlen. Meine wissenschaftlichen Fortschritte wären ohne diese zeitweiligen „Ferien“ von der Wissenschaft nicht möglich gewesen.
Prof. Dr. Joachim Frank (Promotion Physik 1970)
Joachim Frank wurde in Weidenau, einem heutigen Stadtteil von Siegen, geboren. Nach dem Vordiplom in Freiburg graduierte er an der Ludwig-Maximilians-Universität München zum Diplom-Physiker. 1970 wurde Joachim Frank bei dem Elektronenmikroskopie-Pionier Professor Walter Hoppe an der TUM mit einer Arbeit zu elektronenmikroskopischen Aufnahmen hoher Auflösung mit Bilddifferenz- und Rekonstruktionsverfahren promoviert. Als Postdoktorand arbeitete er am California Institute of Technology, an der University of California, Berkeley und an der Cornell University.
Von 1972 an war Frank Forschungsassistent am Max-Planck-Institut für Biochemie, ab 1973 Forschungsgruppenleiter an der University of Cambridge. Seit 1975 ist Frank am Wadsworth Center, New York State Department of Health (University at Albany, The State University of New York) tätig. Seit 1997 hat Frank zusätzlich eine Forschungsprofessur für Zellbiologie an der New York University inne und seit 2008 die Professur für Biochemie, molekulare Biophysik und Biowissenschaften an der Columbia University. 2019 wurde Joachim Frank zum TUM Distinguished Affiliated Professor ernannt.
Joachim Frank erhielt den Nobelpreis in Chemie 2017 zusammen mit Jacques Dubochet und Richard Henderson für die bahnbrechenden Arbeiten zur Entwicklung der Kryo-Elektronenmikroskopie. Dieses Verfahren, bei dem Proben mit flüssigem Stickstoff gekühlt werden, ermöglicht es, die dreidimensionale Form von Proteinen im Elektronenmikroskop zu ermitteln und ihre Struktur zu entschlüsseln.
Nobelpreis für Physik 2001
Sie haben den Nobelpreis für die Realisierung der Bose-Einstein-Kondensation erhalten, an der Sie jahrelang geforscht haben: Gab es einen Geistesblitz, der zu dieser Entdeckung geführt hat?
Entdeckungen im Labor sind oft plötzlich – hier gibt es den Moment, den man nie vergisst. Die Idee, diese Experimente durchzuführen, war eher ein Prozess. Aufgrund von Wissen und Erfahrungen, die ich über viele Jahre angesammelt habe, wurde es in mehreren Schritten klarer und klarer, dass diese Experimente erfolgreich sein könnten.
Viele neue Ideen sind die Verknüpfung von existierendem Wissen in einer neuen Weise. Ein Schritt erscheint im Nachhinein absolut logisch, aber viele Kolleginnen und Kollegen haben diese Schlussfolgerung eben nicht gezogen. Ich bin der Meinung, dass in der Mehrzahl der Fälle die geniale Idee nicht wie ein Geistesblitz plötzlich kommt, sondern aus einer tiefen Sachkenntnis entsteht.
Wie würden Sie Kreativität dann definieren?
Kreativität ist ein Prozess und beruht auf harter Arbeit. Kreativität kommt, in dem man die Ärmel hochkrempelt, sich entweder in Literatur vertieft, Gleichungen löst, mit Doktoranden arbeitet oder im Labor tätig wird und plötzlich, weil man sich so intensiv damit beschäftigt, wird einem eine Verknüpfung bewusst, die man vorher nicht gesehen hat. Daher setzt Kreativität voraus, Wissen zu erlernen, aber dann das Wissen so zu analysieren, dass man eine Matrix hat, die bereit steht für neue Verknüpfungen. Der Kreativitätssprung sieht deshalb von außen oft größer aus, als ihn der Wissenschaftler selbst empfindet, der alle diese Indikatoren schon im Kopf hatte und alle Entwicklungsschritte erlebt. Der plötzliche Wow-Effekt ist oft die Perspektive von außen. Formen der Kreativität brauchen wir jeden Tag, weil wir immer neue Probleme lösen und verstehen müssen, oder herausfinden müssen, warum ein neues Experiment nicht funktioniert.
Wie oft kommt es vor, dass sie ein Problem nicht lösen können?
Ich arbeite immer wieder mit meinen Gruppen an Ideen, von denen wir erwarten, dass sie funktionieren. Aber die Natur ist eben nicht immer kooperativ (lacht). Daher gibt es immer wieder Rückschläge. Frustration gehört zum Geschäft. Das ist ein wichtiger Lernprozess für die Studierenden. Ich sage dann: Wir müssen zehn gute Ideen verfolgen und wenn eine davon am Ende wirkt, sind wir im Geschäft, dann haben wir einen großen Erfolg. Ausdauer zu haben und zu wissen, dass man es am Ende doch schaffen kann, ist eine ganz wichtige Einstellung. Daher bedeutet kreativ sein auch nicht, einmal die Idee seines Lebens zu haben. Die Menschen, die als kreativ gelten, haben wahrscheinlich zehnmal mehr Ideen gehabt als von außen sichtbar.
Prof. Dr. Wolfgang Ketterle (Diplom Physik 1982)
Wolfgang Ketterle wurde 1957 als zweites von drei Kindern geboren und wuchs in Eppelheim auf. Nach dem Abitur begann er 1976 mit dem Physikstudium an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Nach dem Vordiplom wechselte er an die TUM. Er schlug die Richtung der Theoretischen Physik ein und diplomierte 1982 über die Spin-Relaxation von ungeordneten Materialien, anschließend wechselte er an das Max-Planck-Institut für Quantenoptik in Garching und die Ludwig-Maximilians-Universität in München und wurde 1986 mit der Arbeit Spektroskopie am Heliumhydrid und am dreiatomigen Wasserstoff-Molekül promoviert.
Nach seiner Garchinger Zeit wechselte Ketterle wieder nach Heidelberg, um am Lehrstuhl von Jürgen Wolfrum Untersuchungen an Verbrennungsmotoren durchzuführen. 1990 siedelte er nach Amerika über, um in der Gruppe von David E. Pritchard an Problemen der Laserkühlung zu arbeiten. 1993 schloss er sich dem Physics-Department des Massachusetts Institute of Technology (MIT) an und hat heute den John-D.-MacArthur-Lehrstuhl für Physik inne.
Wolfgang Ketterle erhielt den Nobelpreis in Physik 2001 gemeinsam mit Eric A. Cornell und Carl E. Wieman für die Erzeugung der Bose-Einstein-Kondensation in verdünnten Gasen aus Alkali-Atomen und für frühe grundsätzliche Studien über die Eigenschaften der Kondensate.
Nobelpreis für Chemie 1988
Wo sehen Sie den Zusammenhang zwischen Kreativität und Wissenschaft?
Der lateinische Ursprung des Wortes Kreativität ist ja „creare“, also etwas erschaffen. In meinem Fall und in den meisten anderen naturwissenschaftlichen Fächern ist es aber so, dass wir nichts erschaffen, sondern etwas erforschen, das es schon gibt. Wir schauen uns bestimmte Moleküle an, versuchen ihre Struktur zu erkennen, aber geschaffen wurden sie von der Natur. Doch wir haben neue Methoden gefunden, um noch mehr und besser zu sehen, was die Natur hervorgebracht hat. Die Astronomie zum Beispiel mit den fantastischen Bildern von den Sternen und Galaxien – unendlich weit entfernt. Oder die Röntgenkristallografie, die uns die Proteinmoleküle darstellt. Die vielen neuen Methoden, die uns in diesem Jahrhundert zu einem neuen Sehen verholfen haben, sind Zeugnisse unserer Kreativität. Meinen Nobelpreis zusammen mit Johann Deisenhofer und Hartmut Michel habe ich für eine neue Art des Sehens von membranständigen Proteinen erhalten.
Wie war für Sie der Weg dorthin? Gab es in Ihrer Forschung einen entscheidenden Moment des Durchbruchs, an den Sie sich erinnern können?
Während meiner Doktorarbeit fragten mich zwei berühmte Biochemiker, ob ich ihnen bei der Untersuchung eines neu entdeckten Insektenhormons helfen wolle. Meine erste Aufgabe war die Bestimmung des Molekulargewichts. Mein Ergebnis mittels Röntgenkristallografie war aber doppelt so hoch, wie das, was man mittels herkömmlicher Methoden herausgefunden hatte. Ich habe dieses simple Experiment vielfach wiederholt. Plötzlich traf mich die Erleuchtung wie ein Blitzschlag: Ich habe Recht. Diese Entdeckung war ein Schlüsselerlebnis. Ich war in der Lage, etwas zu entdecken, das im Widerspruch zu gängigen Wissen ist. Dieser Moment war der Anstoß überhaupt eine akademische Laufbahn weiterzuverfolgen. Und später hat es dann noch eine ganze Reihe von Blitzen gegeben (lacht).
Welche Bedeutung hat dabei der Austausch mit anderen Wissenschaftlern gespielt?
Bald nach meiner Berufung an das Max-Planck-Institut für Biochemie haben wir die Forschungsgruppe aufgebaut. Die Gruppe bestand aus Chemikern, Physikern und Biologen. Wir waren die produktivste Gruppe weltweit und überall sehr angesehen. Viele Projekte, die wir angefasst haben, entstanden aus Diskussionen untereinander und im Zusammenarbeit mit Kollegen aus der Biologie, Medizin, Biochemie. Ich würde so weit gehen, zu sagen, dass keine meiner vielen Publikationen ohne die Co-Autorschaft und die Kooperation mit oft auch internationalen Kollegen möglich gewesen wäre.
Prof. Dr. Robert Huber (Diplom Chemie 1960, Promotion 1963, Habilitation 1968)
Robert Huber legte sein Abitur 1956 am Humanistischen Karlsgymnasium München-Pasing ab. Anschließend studierte er Chemie an der TUM und wandte sich dann in seiner Diplom- und Doktorarbeit bei Walter Hoppe am Max-Planck-Institut für Eiweiß- und Lederforschung der Kristallographie und der Strukturaufklärung organischer Moleküle zu. In der Folge löste er insbesondere die atomare Struktur des Insekten-Verpuppungshormons Ecdyson, wodurch sein Interesse für biologisch relevante Makromoleküle und die Entwicklung kristallographischer Verfahren geweckt wurde. 1967 machte Huber sich im Rahmen seiner Habilitation bei Hoppe an die Strukturaufklärung des Sauerstoff-bindenden Insektenproteins Erythrocruorin, womit er u. a. die Universalität der Globinfaltung bewies.
1971 wurde Robert Huber Direktor der Abteilung für Strukturforschung am neu gegründeten Max-Planck-Institut für Biochemie in Martinsried bei München. 1976 wurde er an die TUM als Professor für Chemie berufen. Er ist Mitbegründer von zwei Biotech-Unternehmen mit Sitz in Martinsried, die Dienstleistungen für die Wirkstoffforschung und Wirkstoffentwicklung in der Medizin (Proteros, 1997) und zur Therapie von Autoimmunerkrankungen (Suppremol, 2005) anbieten. Seit 2005 ist Robert Huber Emeritus. 2013 wurde er von TUM-Präsident Wolfgang A. Herrmann in den Kreis der TUM Emeriti of Excellence aufgenommen.
Robert Huber erhielt den Nobelpreis in Chemie 1988 gemeinsam mit seinem ehemaligen Doktoranden TUM Alumnus Johann Deisenhofer und mit Hartmut Michel für seine wesentlichen Beiträge zur Röntgenkristallstrukturanalyse und Aufklärung der Raumstruktur des membranständigen Reaktionszentrums der Photosynthese, der biologischen Photozelle.