Den Herausforderungen, denen sie sich als Professorin, als Forscherin und als Unternehmerin gegenübersieht, steht Muriel Médard gelassen gegenüber. „Als Mutter von vier Kindern lernte ich früh mit Entropie und Multitasking umzugehen“, sagt sie. „Ich setze langfristige Prioritäten. Auf dem Weg dorthin bin ich flexibel und gehe auch mal im Zick Zack.“
PURER OPTIMISMUS
Was sie studieren sollte oder später einmal werden wollte, wusste Muriel Médard nicht. Im Elektroingenieurwesen sah sie schließlich zwei ihrer Leidenschaften vereint: Kreativität und exakte Überprüfbarkeit. 1991 schloss sie am MIT ihren Master in diesem Fach ab. Und da ihr die Forschung rund um digitale Nachrichtenübertragung so viel Freude bereitete, entschied sie sich noch für die Promotion.
Mit Robert Gray Gallager als Doktorvater konnte Muriel Médard von einem der großen Theoretiker der Informationstheorie und der Rechnernetze lernen. Unter seiner Betreuung beschäftigte sie sich mit kabellosen Netzwerken. Damit war sie ihrer Zeit weit voraus. Als sie 1995 ihre Promotion abschloss, nahm die weltweite Forschung dazu gerade richtig Fahrt auf. Später konnte sie von der Initialzündung an am Thema Netzwerkkodierung mitwirken. Für das aufkommende digitale Nachrichtennetz aus Sprache, Daten, Text und Bildern waren effiziente Codierungssysteme gefragt. Und Muriel Médard hatte Antworten.
Wissenschaftliche Zusammenarbeit kann nicht geplant werden. Die Forschenden müssen sich intellektuell und persönlich finden.
Die konventionellen Ansätze, die in der Codierung existierten, überzeugten Muriel Médard nicht. Diese waren meist auf ein Worst-Case-Szenario ausgerichtet: Schon bei der Übertragung wurden allen Signalen vorsichtshalber Codes hinzugefügt, durch die der Empfänger dann etwaige Fehler beheben oder verlorengegangene Daten rekonstruieren könnte. Um diese komplexen Codes überhaupt decodieren und damit anwenden zu können, benötigte die Empfängerseite stets einen separaten Chip oder ein zusätzliches Hardwareteil.
Muriel Médard hingegen wollte einen Codierungsmechanismus entwickeln, der auf optimistischen Annahmen basiert. Damit wollte sie ihn auch ressourcenschonender und zeiteffizienter machen. Mit ihrer Arbeitsgruppe am MIT und gemeinsam mit ihrem Ehemann Ken Duffy, der Mathematiker an der irischen Maynooth University ist, gelang ihr das: Ihre Codierung setzt bei der Fehlerbehebung nicht mehr auf der Senderseite, sondern auf der Seite der Empfänger an. Der Siliziumchip, der von Muriel Médard, Ken Duffy und Professor Rabia Yazicigil mitentwickelt wurde, macht die dort bisher notwendige Decodierungshardware überflüssig. Denn er ermöglicht eine universelle Decodierung aller möglichen und selbst aller noch nicht vorhandenen Codes in Millionstel Sekunden.
„Ich bin eine pathologische Optimistin“, sagt Muriel Médard. „Unsere Lösung für das lange bestehende Decodierungsproblem ist ein großartiges Beispiel dafür, wie man ein Problem durch eine neue, optimistische Herangehensweise lösen kann.“ Das Einsatzgebiet für den Chip ist breit und zukunftsfähig: Er kann dabei helfen, das Internet zu beschleunigen und die Bildqualität für Streaming-Filme, Gaming-Systeme und Live-Events zu verbessern.
BESONDERER ESPRIT
Seit über zehn Jahren kommt Muriel Médard an die TUM, um gemeinsam mit den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Fakultät für Elektrotechnik und Informationstechnik an innovativen Netzwerkcodierungen zu tüfteln. Ein jedes Mal ist sie aufs Neue vom ganz speziellen Esprit an der TUM begeistert. „Eine gute und zielführende wissenschaftliche Zusammenarbeit kann nicht einfach geplant werden“, sagt die in Frankreich geborene Wissenschaftlerin. „Die Forschenden müssen sich intellektuell und persönlich finden.“ 2020 wurde Muriel Médard von der TUM die Ehrendoktorwürde verliehen. 2021 wurde die Spitzenforscherin mit dem Ehrentitel TUM Ambassador ausgezeichnet.
TUM Ambassador 2021
Muriel Médard erwarb alle fünf ihrer Abschlüsse am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge, Massachusetts/USA: Bachelor-Abschlüsse in Elektrotechnik und Informatik, Mathematik und Geisteswissenschaften sowie ihren Master- und Doktorabschluss in Electrical Engineering. Im Anschluss ging sie als Assistenzprofessorin an die University of Illinois at Urbana-Champaign. Seit 2000 forscht und lehrt Muriel Médard wieder am MIT. Sie ist Cecil H. und Ida Green-Professorin für Elektrotechnik und Informatik und leitet die Gruppe für Netzwerkcodierung und zuverlässige Kommunikation am Forschungslabor für Elektronik. Gemeinsam mit der Maynooth University und der Boston University entwickelte Muriel Médard einen Siliziumchip, der jeden Code entschlüsseln kann: den GRAND-Chip (Guessing Random Additive Noise Decoding). Um von ihr erfundene Netzwerk-Codierungs-Systeme der breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, war sie Co-Gründerin von drei Start-ups.
Muriel Médard ist gewähltes Mitglied der renommiertesten US-amerikanischen Wissenschaftsgesellschaften wie der American Academy of Arts and Sciences und der National Academy of Engineering. Seit 2012 ist sie Präsidentin der IEEE Information Theory Society. Muriel Médards Liste von Auszeichnungen ist bemerkenswert. Zuletzt erhielt sie den Best Paper Award 2019 für IEEE Transactions on Network Science and Engineering. 2017 wurde sie mit dem Aaron Wyner Distinguished Service Award für das von ihr ins Leben gerufene Mentoring Program für Frauen in der Informationstheorie ausgezeichnet. Muriel Médard erteilte über fünfzig US-amerikanische und internationale Patente.
2021 wurde Muriel Médard von TUM-Präsident Thomas F. Hofmann der Ehrentitel TUM Ambassador verliehen. In Anerkennung ihrer Verdienste erhalten seit 2013 einmal jährlich ausgewählte internationale Spitzen-Forscherinnen und -Forscher, die als Gast an der TUM geforscht haben, diesen Titel.